Abu Simbel

Am 22. März 1813 besuchte als erster Europäer Johann Ludwig Burckhardt die beiden Felstempel Ramses' II. von Abu Simbel. Sie wurden 1817 von Belzoni freigelegt und bilden heute, mit Flugzeug oder Auto erreichbar, eine Hauptattraktion des ägyptischen Fremdenverkehrs.
Die beiden Tempel stellen den Höhepunkt des nubischen Tempelbauprogramms Ramses II. dar und wurden wohl um 1260-1255 v.Chr. geweiht. Der größere Tempel ist den ägyptischen Reichsgöttern Amunre (im Süden), Horus von Mehu (im Norden) und dem vergöttlichten Ramses und Ptah geweiht, der kleinere gemeinsam der Hathor von Ibschek und der Königin Nefertari. Zweifellos standen der König als "Gott Ramses", die Königin als Erscheinungsform der Hathor von Ibschek im Mittelpunkt des Kultes. Beide Tempel sind in der Tradition ägyptischer Felsgräber und unterirdischer Steinbrüche hergestellt, der größere 60, der kleinere Tempel 21m tief in den nubischen Sandstein gemeißelt. Sie stellen Meisterwerke der Felsbaukunst dar, in ihrer Bedeutung nur vergleichbar den indischen Felsentempeln von Ellora. Sie verfügen über alle notwendigen Innenräume, vom Erscheinungssaal bis hin zu den Nebenräumen und Magazinen. Die abgeschrägte Felsfront stellt eine Pylon- oder Tempelfassade dar. Die gewaltigen, 22m hohen, aus einer tiefen Nische in der Felsfassade gemeißelten Figuren des Königs entsprechen den Kolossalbildern desselben Königs im Ramesseum oder in Pi-Ramesses, seiner Deltaresidenz, und dürften ihre Wirkung auf die an die Macht der lebenden Bilder glaubenden Zeitgenossen nicht verfehlt haben. Die beiden Tempel von Abu Simbel demonstrieren dadurch die machtpolitische Präsenz der Pharaonen im oberen Niltal. Die vier "lebenden" Riesenstatuen tragen die Namen "Ramses, Sonne der Herrscher" und "Herrscher der beiden Länder" im Süden und "Der Geliebte des Amun" und "Der Geliebte des Atum" im Norden.
Bemerkenswert ist die starke Betonung des Sonnenkultes durch den Fries der Sonnenaffen am oberen Rand der Fassade, durch ein separates Sonnenheiligtum nördlich des Haupttempels und durch die im Jahr zweimal, am 21. Februar und 21. Oktober (vor der Übersiedlung 20.2 und 20.10), eintretende völlige Ausleuchtung der vier Kultbilder durch die Strahlen der aufgehenden Sonne. Vor allem wird in der gewaltigen, frontal aus der Fassade des Tempels hervortretenden Figur des Sonnengottes auf magische Weis; die Identität des Königs mit dem Sonnengott bewirkt.
Denn die Attribute Sonnenscheibe (= Re),wsr-Zeichen (in rechter Hand), Ma'at-Figur (in linker Hand) können als wsr-mA't-R' gelesen werden, welches der Thronname des Königs ist. Hiermit wird der König zu einer Inkarnation des Re, zur "Großen Seele des Reharachte".
Der große Tempel hat noch seinen gesamten Reliefschmuck in farbiger Bemalung erhalten, am eindrucksvollsten in der hypostylen Halle mit ihren 2 x 4. Statuenpfeilern. An der Südwand ist der Triumph des Gottkönigs über Syrer, Libyer und Neger dargestellt, besonders schön der Angriff des Königs in seinem Streitwagen. Im Norden findet sich eine wichtige Version der Darstellung der Hethiterkriege, gipfelnd in der Schlacht von Kadesch (andere Versionen im Ramesseum und in Abydos).
Der größere Tempel wurde noch in der späteren Regierungszeit Ramses' II. durch ein Erdbeben stark beschädigt, so dass Stützmauern und Reparaturen im Innern des Pfeilersaales notwendig wurden. Wahrscheinlich ist damals auch der Oberteil des Kolosses links des Eingangs herabgestürzt. Er konnte von den antiken Technikern nicht mehr an seinen ursprünglichen Platz gehoben werden. Eine Felsstele und eine Inschrift am zweiten Koloss von Norden erinnert an die Wiederherstellungsarbeiten durch Sethos II.
Im kleineren Tempel wird die Königin als Inkarnation der Hathor angesprochen, vergleichbar der Rolle der Königin Hatschepsut in ihrem Hathor-Heiligtum in Deir el-Bahari. Während im Bildprogramm des großen Tempels die "männlichen" Aspekte des Kampfes und der Herrschaft zum Ausdruck kommen, scheint im kleinen Tempel der weibliche Part im ägyptischen Weltbild zu dominieren: Szenen der Krönung und Beschützung der Königin durch Göttinnen der Liebe und Fruchtbarkeit.
1964-1968 wurden beide Tempel in einem bisher beispielslosen technischen Kraftakt vor den steigenden Fluten des Nasser-Sees gerettet und auf einer dahinter gelegenen Anhöhe wiedererrichtet. Die Kosten wurden von internationalen Spenden bestritten, die Arbeit wurde in einem "joint venture" von ägyptischen, deutschen, französischen, italienischen und schwedischen Baufirmen durchgeführt Die Bausubstanz wurde auf diese Weise gerettet, die magische Ausstrahlung de Tempel zerstört.
In der Umgebung der Tempel finden sich zahlreiche Felsstelen von Beamten und Offizieren seit der 11. Dynastie. Den späten Durchzug von Truppen bezeugen zahlreiche Graffiti an den südlichen Kolossen, darunter eine griechische Inschrift aus der Zeit Psammetichs II., die die Generale Potasimto und Amasis nennen. Dieses weist auf die Verwendung von Söldnerheeren zur Unterdrückung der diversen Aufstände in der Spätzeit in Nubien hin.

Literatur: D. Arnold, Die Tempel Ägyptens (Zürich 1996) in: 78-80; Johann Ludwig Burckhardt, Travels in Nubia (London 1819), deutsch, siehe zuletzt Reisen in Nubien (Tübin gen 1981) 107-114; Gau, Antiquites, Taf. 54-61; Christiane Desroches-Noblecourt und Ch. Kuentz, Le petit temple d'Abou Simbel, 2 Bde. (Kairo 1968); Vattenbyggnadskyrän, The Salvage of the Abu Simbel Temples. Conduding Repoi (Kairo 1971); S. Donadoni, H. El-Achiri und Ch. Leblanc, Grand temple d'Abou Simbel (Kairo 1975); E. Otto, Abu Simbel, in: LA I 26/27; Lexikon der Ägyptologe Bd. I (1975).

großer Tempel
[Abb. N53] großer Tempel von Ramses II.

kleiner Tempel
[Abb. N54] kleiner Tempel von Ramses II.